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Kinderverschickungen: Verbrechen an Kinderseelen

Veröffentlicht am

Sehen so fröhliche Kinder aus? Teilnehmer und Betreuer einer Kinderverschickung. Foto: AKV-NRW

Als kleine Kinder wurden über 10 Millionen Deutsche zur Kinderverschickung in sogenannte Erholungsheime geschickt. Viele von ihnen erlebten systematische Misshandlung, psychischen Terror und physische Gewalt. Oft schwiegen sie ein Leben lang. Nun trifft sich eine Opferinitiative in Dorsten.

„Die Kleine ist ein bisschen dünn. Wollen Sie sie nicht mal sechs Wochen zur Kur schicken? Etwas aufpäppeln?“ So oder so ähnlich klang es tausendfach in den Ohren von Eltern in den 50er bis 80er Jahren, die sich von Kinderärzten oder professionellen Werbern zur Kinderverschickung überreden ließen. Fest in der Überzeugung, den Kindern etwas Gutes zu tun, übergaben sie ihren Nachwuchs einem oft grausamen, von Gewalt geprägten System. Unter den Folgen leiden viele Betroffene noch heute.

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Schläge, Spritzen, Zwangsernährung

Einer von ihnen ist Detlef Lichtrauter. Er war als zwölf Jahre alter Junge ein dünnes Kind. Daher schickten ihn seine Eltern nach ärztlichem Rat zur „Kur“ im Haus Bernward in Bonn-Oberkassel.

„Vom ersten Moment an herrschte eine militärische Atmosphäre, vollkommen gefühlskalt“, erinnert er sich. Die Betreuer verstehen sich nicht als Menschen, die den Kindern eine schöne Zeit bereiten wollen. Stattdessen werden ihre Schützlinge wie Mastvieh behandelt. „Der Erfolg einer Kur wurde in Kilos gemessen“, erinnert sich Lichtrauter. Daher wurde hochkalorisches Essen in die Kinder gezwungen. Unvorstellbare Szenen spielten sich hier ab. Kinder, die sich erbrachen, wurden geschlagen und gezwungen, das Erbrochene erneut hinunter zu würgen. Spritzen mit starken Beruhigungsmitteln wurden brutal ins Gesäß gerammt.

Weil ein Kind die Augen geöffnet hatte, wurde es verprügelt

Dazu kam eine ständige Erniedrigung und Einschüchterung. „Nach dem Essen mussten wir uns ins Bett legen und Mittagsruhe halten. Stocksteif lagen wir hellwach da“, berichtet Detlef Lichtrauter. „Wer sich bewegte, flüsterte oder auch nur die Augen öffnete, wurde bestraft.“ Der Heimleiter persönlich, der als Arzt eigentlich dem Wohl der Kurgäste dienen sollte, riss den Kindern die Unterhosen herunter und prügelte mit voller Wucht auf die nackten Hintern ein. Wer weinte oder sich vor Angst einnässte, den prügelten und bestraften die Aufseher noch mehr. Nach sechs Wochen war das Martyrium zunächst vorbei. „Als meine Eltern mich fragten, wie es gewesen sei, sagte ich nur: Gut. Mehr nicht“, sagt Lichtrauter. Doch diese Zeit begleitet ihn bis heute.

Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW. Foto: Lichtrauter

Aufarbeitung und Dokumentation

„Ich habe immer gedacht, es sei nur mir so gegangen“, diesen Satz hat Detlef Lichtrauter nicht nur selbst gesagt. Er hat ihn seitdem hundertfach von anderen Betroffenen gehört. Inzwischen ist er der Vorsitzende des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V. und Pressesprecher des Citizen-Science-Projekt-Kinderverschickungen-NRW. Mit seinen Mitstreitern setzt er sich dafür ein, den Opfern eine Stimme zu geben, Leidensgeschichten zu dokumentieren und den Betroffenen Hilfsmöglichkeiten zu eröffnen. Seit Ende 2021 arbeiten sie die systematische Misshandlung bei Kinderverschickungen in NRW auf. Über 700 Betroffene haben sich seitdem gemeldet.

Das System förderte die Misshandlung

Ihre Berichte geben einen Einblick in ein System, das die Kinder nicht als Menschen, sondern wie Objekte behandelte. „Das Ziel war nicht die Erholung der Kinder, sondern Gewinnstreben“, sagt Detlef Lichtrauter. Da die Kinderverschickung staatlich gefördert wurde, verdienten die Träger der Einrichtungen viel Geld mit jedem Kind, aber auch die Ärzte, die aggressiv für solche Kuren warben. Als eines der wichtigsten Kriterien für einen Erfolg musste eine Gewichtszunahme nachgewiesen werden. Möglichst viele Kinder mit möglichst wenig Personalaufwand zu mästen, war das Ziel.

Kinderverschickungen
Kinder mit ihren Betreuerinnen bei einer undatierten Kinderverschickung. Foto: AKV-NRW

„Dazu kommt, dass die Erziehung damals noch im Zeichen der sogenannten schwarzen Pädagogik stand“, betont Lichtrauter. Es sah vor, Kinder von allen natürlichen Bedürfnissen zu brechen, um sie wie funktionierende Maschinen zu formen. Dabei war Gewalt allgegenwärtig. Selbst Kleinkinder im Vorschulalter wurden brutal gemästet, geschlagen, entwürdigt. Zeugen berichten, wie sie mit Trichtern zwangsgefüttert wurden, wie sie mit eingenässten Bettlaken auf dem Flur stehen mussten und der Verächtlichmachung preisgegeben wurden. Andere erlebten Medikamentenmissbrauch, sexualisierte Gewalt, systematische Erniedrigung.

Die meisten Täter kamen straflos davon, nur wenige Mitarbeiter meldeten die Übergriffe. Den Kindern glaubten oft selbst die eigenen Eltern nicht. Erst Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre lief das Konzept der Kinderverschickungen aus. Inzwischen waren viele Vorfälle öffentlich geworden.

Angst kehrt im Alter zurück

„Bei vielen Betroffenen kommt jetzt im fortgeschrittenen Alter die Angst wieder hoch. Was, wenn sie wieder in ein Pflegeheim müssen?“, schildert Detlef Lichtrauter. Manche entschieden sich lieber für den Freitod, anstatt noch einmal unter der Obhut anderer Menschen zu stehen. „Daher ist es uns als Betroffene wichtig, auch aktuelle Missstände in der Pflege zu benennen“, sagt Lichtrauter. Viele Faktoren wie überlastetes und schlecht ausgebildetes Personal könnten auch hier schnell den Nährboden für Verwahrlosung oder Entmenschlichung bilden.

Begegnungstag in Dorsten soll Positives hervorheben

Am 14. Oktober lädt der Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW nun im Treffpunkt Altstadt zum Begegnungstag ein. Bei allem persönlichen Leid möchten die Veranstalter diesen Tag mit einer positiven Botschaft begehen. „Es werden sich ganz viele ehemalige Verschickungskinder nach all den Jahren dort treffen“, erklärt Detlef Lichtrauter. Dazu gehört auch die Dorstenerin Barbara Seppi, die den Kontakt zum Treffpunkt Altstadt hergestellt hat.

Von 9 bis 18 Uhr sind Begegnungen und Workshops geplant. Dabei geht es um Themen wie Selbstfürsorge, den Umgang mit belastenden Erinnerungen, Entspannung, Lebensgestaltung und mehr. Das ganze Programm findet man hier.

Und eins ist den Organisatoren auch wichtig: Natürlich können Menschen, die selbst betroffen sind, aber bisher keinen Austausch gefunden haben, gerne an diesem Tag vorbeikommen.

Den Kontakt zum Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW finden Sie hier:

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