Essay von Reinhard G. Nießing
„In den Morgenstunden des 10. November 1938 wurde die Raesfelder Synagoge im Rahmen der »Reichskristallnacht« vollständig von den Nationalsozialisten niedergebrannt. Nur wenige Mitglieder der Synagogengemeinde überlebten die Verfolgungen in den 1940er-Jahren. Als verfolgte Menschen, als unsere Nächsten, die drangsaliert, vertrieben und letztlich vernichtet wurden.“

Soweit ein Auszug aus unserer jüngsten Raesfelder Zeitgeschichte. Eine Schandtat für die Ewigkeit, die in Vergessenheit geraten — oder für immer in Erinnerung bleiben sollte — auch noch achtzig Jahre später, im Jahr 2020? Die Raesfelder Synagoge ist doch längst Geschichte, könnte man meinen, wie auch die Erinnerung an unsere ehemaligen Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens.
Und dennoch, Geschichte wiederholt sich: Es sind wieder Menschen auf der Flucht, die verfolgt, vertrieben und ausgegrenzt werden. Ich kann es ihnen nicht verdenken oder schon gar verurteilen, wenn sich Menschen, geprägt von Armut und Ausbeutung, auf den Weg „ins gelobte Land“ machen. Einem Kontinent entgegenlaufen, der sich durch seine Hymne, „Die Ode an die Freude“ — „schöner Götterfunken“ auszeichnet, unserer europäischen Hymne, die die Brüderlichkeit beschwört und im übertragenden Sinne, auf die Fahne geschrieben hat: https://youtu.be/Bylj_hZPv-8
Sollten wir nicht angesichts dessen und unter Berücksichtigung der aktuellen Situation, die Flüchtlinge und Vertriebenen dieser Tage als unsere Nächsten betrachten? Väter, Mütter und Kinder, die ihre Existenz längst aufgegeben haben und nur noch um ihr nacktes Überleben kämpfen?
An ein oder zwei aufgegebenen Gaststätten und adäquaten Räumlichkeiten innerhalb unserer Gemeinde dürfte es wahrlich nicht fehlen. Eine kircheneigene Immobilie im Bereich des Schutzpatrons unserer St.-Martin-Kirche stünde als eine völlig intakte Herberge unmittelbar zur Verfügung, zumal dieses Ortsbild prägende Haus seit einigen Jahren verwaist ist und in nächster Zeit sogar abgerissen werden soll?
Wäre es daher nicht denkbar, in Anbetracht der aktuellen Flüchtlingskrise und angesichts des menschlichen Elends, das zurzeit auf den griechischen Inseln vonstatten geht, ein Zeichen der Solidarität und Nächstenliebe zu setzen, indem wir einigen kinderreichen Familien Schutz und Obdach gewähren, mittels einer leerstehenden „Gaststätte“? Wenigstens für eine gewisse Zeit?
Konkret gefragt: Was spräche dagegen, einige Elternpaare einschließlich ihrer Kinder aufzunehmen, ihnen eine neue Lebensperspektive anzubieten? Warum sollte das innerhalb einer 11.000-Seelengemeinde nicht möglich sein? Das wäre schon ein großer Wurf, nachdem wir alle gemeinsam, im Jahre 2015, auf großartige Weise zusammen gestanden sind.
Natürlich dreht sich zurzeit alles um die Auswirkungen der Coronakrise und wird deshalb vieles andere überlagern. Ja, wir leben in unruhigen Zeiten, indem jeder zunächst einmal mit seinen eigenen Sorgen klarkommen muss. Zugegeben, ich finde es auch ziemlich befremdlich sich an den Gedanken gewöhnen zu müssen, dass wir uns als Großeltern augenblicklich „besser nicht“ mit unserer Enkelkindern beschäftigen sollten? Wir leben halt in einer etwas verrückten Welt.
Trotzdem und bei allen Widersprüchen und/oder gerade deshalb sollten wir diejenigen nicht aus den Augen verlieren, denen es aktuell noch wesentlich schlechter geht. Drangsalierte Menschen nicht einfach links liegen lassen, nicht unsere kalte Schulter zeigen — sie nicht im Stich lassen.
Es wäre auch ein starkes Zeichen wider rechtsradikaler Gesinnung! Ausdruck von Hilfsbereitschaft, Zeugnis einer humanitären Geisteshaltung innerhalb einer selbstbewussten Zivilgesellschaft. Es könnte sich in gewisser Weise auch als Initialzündung für ein neuerliches, christliches Miteinander erweisen, über alle Glaubens- Grenzen hinweg.
Und somit schließt sich der Kreis, wenn ich an den Anfang meiner Ausführungen denke: Wir können zwar keine neue Synagoge errichten, aber auf eine andere Weise unter Beweis stellen, dass wir alle zusammenrücken, wenn es wieder mal darauf ankommt. Und, dass wir aus unserer jüngeren Geschichte etwas gelernt haben.